Versammlungsverbot auf dem Galatarasay-Platz aufheben!
Die sogenannten Samstagsmütter/-leute werden Woche für Woche daran gehindert, sich friedlich auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul zu versammeln und an diesem für sie symbolträchtigen Ort Gerechtigkeit für ihre «verschwundenen» Angehörigen zu fordern. In den vergangenen Wochen hat die Bereitschaftspolizei bei Festnahmen erneut unnötige Gewalt angewandt. Zudem weitete sie ihren Sicherheitsgürtel um den Platz aus, sodass unabhängige Beobachtung durch Journalist*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen nicht mehr möglich ist.
Seit 1995 kamen die sogenannten Samstagsmütter/-leute Woche für Woche auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul zusammen und forderten Gerechtigkeit für ihre «verschwundenen»Angehörigen. Als die Mahnwache am 25. August 2018 zum 700. Mal stattfand, löste die Polizei den mehrheitlich von Frauen organisierten friedlichen Protest mit Tränengas, Plastikgeschossen und Wasserwerfern auf. Seitdem verhindern die türkischen Behörden die Versammlungen der Gruppe, deren Mitglieder teilweise über 80 Jahre alt sind, obwohl diese immer friedlich waren und nie zu Gewalt aufriefen. Im November 2022 und März 2023 ergingen zwei Urteile des Verfassungsgerichts, die besagten, dass die Beschwerdeführerinnen Maside Ocak und Gülseren Yoleri in ihrem Recht auf friedliche Versammlung verletzt wurden, und dass die «Gemeinde Beyoğlu informiert werden solle, [...] um künftige Rechtsverletzungen zu verhindern». Dementsprechend versuchen die Samstagsmütter/-leute seit dem 8. April 2023, ihre wöchentlichen Mahnwachen auf dem Galatasaray-Platz wieder aufzunehmen. Dennoch wird der Platz jeden Samstag von der Polizei blockiert, wobei diejenigen, die ihre kurze friedliche Mahnwache abhalten wollen, von der Polizei festgesetzt werden, noch bevor sie den Platz erreicht haben. Journalist*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen werden daran gehindert, den Polizeieinsatz zu beobachten.
Polizist*innen wenden routinemässig übermässige und willkürliche Gewalt an, um friedliche Demonstrierende zu vertreiben, offensichtlich in der Absicht, den Teilnehmer*innen der Mahnwachen Schmerzen zuzufügen und sie so zu bestrafen. Zuletzt nahm die Polizei am 14. Oktober Besna und Ali Tosun fest und fesselte ihre Hände mit Kabelbindern. Beide wurden später wieder freigelassen. Angehörige zivilgesellschaftlicher Organisationen haben ähnliche Fälle von unnötiger Gewaltanwendung dokumentiert, die möglicherweise auf Folter und andere Misshandlungen hinauslaufen. In einigen Fällen wurden Strafanzeigen gegen Polizist*innen erstattet, denen aber bisher nicht wirksam nachgegangen wurde.
Mit der wiederholten willkürlichen Festnahme und Inhaftierung von Angehörigen der Samstagsmütter/-leute wird jeden Samstag aufs Neue gegen ihre verfassungsmässigen Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung verstossen, was so auch in den Urteilen im Fall von Maside Ocak (Nr. 2019/21721) und Gülseren Yoleri (Nr. 2020/7092) festgestellt wurde. Diese Rechte sind zudem in Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 19 und 21 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) verbrieft, deren Vertragsstaat die Türkei ist. Auch verstösst ihre willkürliche Festnahme und Inhaftierung gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person, welches durch Artikel 9 des IPbpR geschützt ist.
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Seit 28 Jahren fordern die Samstagsmütter/-leute Wahrheit und Gerechtigkeit für ihre Angehörigen, die in den 1980er- und 1990er-Jahren in Polizeigewahrsam Opfer des Verschwindenlassens geworden waren. Im Mai 1995 begann die Gruppe mit einer friedlichen wöchentlichen Mahnwache auf dem Galatasaray-Platz im Zentrum Istanbuls, um von den Behörden Informationen über das Schicksal ihrer Angehörigen zu fordern. Obwohl sie jede Woche willkürlich festgenommen und inhaftiert wurden, versammelten sie sich weiterhin auf dem Platz. Im März 1999 ging die Polizei schliesslich besonders scharf gegen die Demonstrierenden vor, mit dem Ziel, die friedlichen Mahnwachen in Zukunft zu verhindern. Nach einer Pause von zehn Jahren und weil es bei der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit für ihre «verschwundenen» Angehörigen keine Fortschritte gab, nahm die Gruppe im Januar 2009 ihre Mahnwachen auf dem Galatasaray-Platz wieder auf.
Immer wieder sind die Samstagsmütter/-leute wegen ihrer friedlichen Mahnwachen brutal angegriffen oder gar strafrechtlich verfolgt worden. Die türkischen Behörden haben nie eine angemessene Begründung für diese rechtswidrige Verweigerung der Wahrnehmung der Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit geliefert. Im August 2018 setzte die Bereitschaftspolizei Tränengas und Wasserwerfer sowie exzessive Gewalt ein, um Hunderte Menschen zu vertreiben, die sich friedlich zur 700. Mahnwache versammelt hatten. Als Grund wurde angeführt, dass ein Verbot des Gouverneurs der Gemeinde Beyoğlu vorliege, da der Platz nicht als Versammlungs-ort vorgesehen sei und die Versammlung nicht angemeldet worden sei. Unter Einsatz exzessiver Gewalt wurden 47 Personen festgenommen. Gegen 46 von ihnen wurde im Jahr 2021 die Anklage erhoben, «sich trotz der Mahnungen nicht entfernt» zu haben. Das Verfahren gegen sie läuft noch.
Seit August 2018 sind durchgehend bewaffnete Bereitschaftspolizist*innen auf dem Galatasaray-Platz stationiert, die alle Zugänge blockieren und friedliche Demonstrierende daran hindern, sich zu versammeln. Jede Woche wird den Samstagsmüttern/-leuten von der Polizei mitgeteilt, dass ein Verbot durch die Gemeinde Beyoğlu vorliegt und dass ihre Versammlung «nicht genehmigt» sei, was den beiden Urteilen des Verfassungsgerichts vom November 2022 und März 2023 widerspricht.