Sorge um Verschwundene
Von dem IT-Spezialisten Victor Filinkov und dem zivilgesellschaftlichen Aktivisten Yuliy Boyarshinov fehlt seit dem 28. Juli jede Spur. Bis dahin befanden sie sich in einer Hafteinrichtung in Jaroslawl. Ihr aktueller Verbleib ist unbekannt, aber es wird vermutet, dass sie derzeit an einen unbekannten Ort verbracht werden. Amnesty International fürchtet um die Sicherheit der beiden Männer.
Der IT-Spezialist Victor Filinkov und der zivilgesellschaftliche Aktivist Yuliy Boyarshinov wurden zuletzt am 28. Juli in einer Hafteinrichtung in Jaroslawl nordöstlich von Moskau gesehen. Die beiden Männer werden seit Januar 2018 von Angehörigen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in St. Petersburg festgehalten. Man wirft ihnen vor, einer «terroristischen» Organisation namens Syet («Netzwerk») anzugehören und damit gegen Paragraf 205.4 (2) des russischen Strafgesetzbuches zu verstossen. Beide Männer geben an, von FSB-Angehörigen misshandelt worden zu sein. Victor Filinkov wurde eigenen Angaben zufolge gefoltert. So wollte man sie offenbar dazu bringen, sowohl ihre eigene Mitgliedschaft in der «terroristischen» Organisation Syet zu «gestehen» als auch andere Personen als Mitglieder zu benennen. Victor Filinkov legte ein «Geständnis» ab, welches er später zurückzog, da es unter Zwang abgegeben worden sei. Yuliy Boyarshinov wurde eigenen Angaben zufolge unter Druck gesetzt, sich oder andere Personen als Mitglieder von Syet auszuweisen; er weigerte sich jedoch. Am 26. Januar wurde Victor Filinkov von Mitgliedern der Kommission, die Strafvollzugseinrichtungen in der russischen Föderation überwacht (ONK), untersucht. Diese bestätigten, dass an seinem Körper sichtbare Folterspuren zu finden waren, unter anderem Wunden durch Elektroschocks. Victor Filinkov sagte Mitgliedern der ONK ausserdem, dass einer der FSB-Angehörigen ihm mit weiterer Folter durch «Professionelle» bei der Überstellung gedroht habe, falls er sein «Geständnis» zurückziehen sollte.
Am 20. Juli hiess es, Victor Filinkov und Yuliy Boyarshinov seien an einen unbekannten Ort gebracht worden, mutmasslich in die Stadt Pensa, die etwa 1.400 km von St. Petersburg entfernt liegt. Dort läuft derzeit eine Untersuchung im «Fall Syet». Wie im russischen Strafvollzugssystem üblich, wurden weder die Familien von Victor Filinkov und Yuliy Boyarshinov noch ihre Rechtsbeistände über die Überstellung der beiden Männer informiert. Am 25. Juli erhielt Amnesty International Berichte darüber, dass sie in einer Untersuchungshafteinrichtung in Jaroslawl festgehalten würden. Dies wurde am 28. Juli von dem Rechtsbeistand der beiden Männer bestätigt. Laut Angaben des Rechtsbeistands geht es seinen Mandanten gut und sie haben keine neuen Folter- oder Misshandlungsvorwürfe erhoben. Allerdings beklagten sie sich über schlechte Bedingungen bei der Überstellung und in der Hafteinrichtung. Seit dem 28. Juli jedoch fehlt von den beiden Männern jede Spur. Es ist nicht bekannt, ob sie sich noch in der Hafteinrichtung von Jaroslawl befinden, oder ob sie erneut verlegt wurden. Die Behörden haben keinerlei Informationen über das Schicksal und den Verbleib von Victor Filinkov und Yuliy Boyarshinov herausgegeben. Amnesty International ist daher in grosser Sorge, dass den beiden Männern Folter und andere Misshandlungen drohen könnten, insbesondere während einer Überstellung. Werden Informationen über den Verbleib von Gefangenen zurückgehalten, so kann dies unter Umständen dem Verschwindenlassen gleichkommen.
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Am 23. Januar 2018 verschwand der IT-Spezialist und Antifaschist Victor Filinkov in St. Petersburg. Zwei Tage später fand man heraus, dass er sich in Gewahrsam befand und «gestanden» hatte, einer «terroristischen» Organisation namens Syet («Netzwerk») anzugehören. Der russische Geheimdienst FSB behauptet, dass Syet kleinere Zellen in Pensa unterhalte, wo im Oktober 2017 die ersten Festnahmen im «Fall Syet» erfolgten, sowie in St. Petersburg, Moskau und Belarus. Laut Angaben des FSB planten Mitglieder der Organisation «terroristische» Angriffe während der Präsidentschaftswahlen im März und bei der Fussball-Weltmeisterschaft im Juni und Juli 2018. Victor Filinkov zog sein «Geständnis» später zurück und sagte, es sei durch Folter erzwungen worden. Seine Foltervorwürfe sind bisher nicht untersucht worden.
Der zivilgesellschaftliche Aktivist und Industriekletterer Yuliy Boyarshinov wurde am 21. Januar in St. Petersburg festgenommen, ursprünglich unter dem Vorwurf des Besitzes von Sprengstoff (Paragraf 222.1 (1) des russischen Strafgesetzbuches). Bei der Festnahme wurde er von PolizistInnen geschlagen und in der Untersuchungshaft von FSB-Angehörigen unter Druck gesetzt, ein «Geständnis» abzulegen und andere Personen als Mitglieder von Syet zu identifizieren. Als er sich weigerte, wurde er unter Paragraf 205.4 (2) des Strafgesetzbuches der «Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation» beschuldigt und in eine Untersuchungshafteinrichtung gebracht, in der noch schlechtere Bedingungen herrschten. Die Familie von Yuliy Boyarshinov ist der Ansicht, dass diese Vorwürfe sowie die Verlegung eine Vergeltungsmassnahme sind, weil er nicht kooperiert hat.
Elf Personen aus Pensa und St. Petersburg befinden sich derzeit im «Fall Syet» in Untersuchungshaft. Die meisten von ihnen haben Verbindungen zu antifaschistischen und anarchistischen Bewegungen. Mehrere dieser Inhaftierten berichteten über Folter durch Angehörige des FSB, um «Geständnisse» von ihnen zu erzwingen. Sollten sie für schuldig befunden werden, einer «terroristischen Organisation» anzugehören, drohen ihnen bis zu zehn Jahre Gefängnis.
Die russische Strafvollzugsbehörde (FSIN) gibt keinerlei Informationen über die Verlegung von Inhaftierten bekannt. Weder die Familien noch die Rechtsbeistände der Gefangenen werden im Voraus über die Verlegung an einen anderen Ort informiert. Gemäss Paragraf 17 des Strafvollzugsgesetzes muss die FSIN die Familie eines Gefangenen innerhalb von zehn Tagen nach dessen Ankunft in einer neuen Hafteinrichtung informieren. Wenn nicht bekannt ist, wo Inhaftierte sich befinden, erhöht sich die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen, da Überwachungsorgane und Rechtsbeistände keinen Zugang zu ihnen haben.
Wenn Behörden sich weigern, das Schicksal oder den Verbleib einer Person, die sich in ihrem Gewahrsam befindet, bekannt zu geben, dann ist dies als Verschwindenlassen zu betrachten. So ist der UN-Ausschuss zum Schutz vor dem Verschwindenlassen im Fall Yrusta gegen Argentinien zu dem Schluss gekommen, dass der Beschwerdeführer während seiner Verlegung von einer Hafteinrichtung in die andere dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen ist. Der Ausschuss führte an, dass der Beschwerdeführer für den Zeitraum der Überstellung dem Schutz des Gesetzes entzogen wurde und somit dem Verschwindenlassen zum Opfer fiel, weil a) er keinen Besuch von Dritten erhalten durfte, und b) weder er noch seine Familie Zugang zu einem Gericht hatten, vor dem sie die Rechtmässigkeit seiner Situation anfechten hätten können. In diesem Fall wurden die Familienangehörigen mehr als sieben Tage lang über den Verbleib des Gefangenen im Unklaren gelassen.
Sowohl Yuliy Boyarshinov als auch Victor Filinkov beklagten sich über die Haftbedingungen in Jaroslawl: in den Zellen sei es sehr schwül gewesen, es habe an Belüftung und warmem Wasser gemangelt, und die Wände seien schimmelig gewesen. Darüber hinaus habe man ihnen nicht erlaubt, ihre Zellen zu verlassen, und sie durften sich nicht duschen.
In der Regel dauert eine Zugfahrt von St. Petersburg nach Pensa höchstens 20 Stunden. Die beiden Männer befinden sich allerdings nun schon seit zwölf Tagen nicht mehr in St. Petersburg. Möglicherweise steht ihnen die lange Fahrt noch bevor, in einem überfüllten Zug oder Wagen und unter Bedingungen, die grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe darstellen könnten.