09.07.2020: Latest feature
Wife of detained lawyer You Wensheng tells of ongoing fight for justice: feature see here
Menschenrechtsanwalt in geheimem Gerichtsverfahren verurteilt
Der chinesische Menschenrechtsanwalt Yu Wensheng wurde am 17. Juni 2020 wegen «Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt» zu vier Jahren Gefängnis und dem dreijährigen Entzug seiner politischen Rechte verurteilt. Dieses Urteil basiert auf einem geheimen Gerichtsverfahren, das bereits im Mai 2019 stattfand. Der Rechtsbeistand und die Ehefrau des Menschenrechtsanwalts wurden erst nach der Verkündung des Strafmasses informiert. Yu Wensheng ist ein gewaltloser politischer Gefangener und muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden.
Am 17. Juni wurde der chinesische Menschenrechtsanwalt Yu Wensheng (余文生) wegen «Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt» zu vier Jahren Gefängnis und dreijährigem Entzug seiner politischen Rechte verurteilt. Laut Angaben seiner Ehefrau waren weder sie noch sein Rechtsbeistand über die Gerichtsverhandlung im Mai 2019 informiert worden. Sie wurden erst nach dem Urteilsspruch von der Staatsanwaltschaft der Stadt Xuzhou per Telefon informiert. Yu Wensheng hat stets seine Unschuld beteuert und wird Rechtsmittel gegen den Schuldspruch einlegen.
Yu Wensheng ist ein bekannter Menschenrechtsanwalt in Peking. Er vertrat zahlreiche Personen in öffentlichkeitswirksamen Menschenrechtsfällen. So übernahm er unter anderem die Verteidigung verschiedener Falun-Gong-AnhängerInnen und des Menschenrechtsanwalts Wang Quanzhang. Wang Quanzhang war während des harten staatlichen Vorgehens gegen AnwältInnen und AktivistInnen im Juli 2015 wegen «Untergrabung der Staatsgewalt» angeklagt worden. Yu Wensheng wurde im Januar 2018 festgenommen und wird seither ohne Kontakt zur Aussenwelt in Haft gehalten. Seine Ehefrau und Rechtsbeistände haben in dieser Zeit mindestens 25 Mal versucht ihn zu besuchen, jedoch ohne Erfolg. Yu Wensheng ist ein gewaltloser politischer Gefangener, der sich nur deshalb in Haft befindet, weil er von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hat. Da er keinen Zugang zu seiner Familie oder einem Rechtsbeistand seiner Wahl hat, befürchtet Amnesty International, dass er Gefahr läuft, gefoltert oder anderweitig misshandelt zu werden. Er war bereits 2014 inhaftiert und gefoltert worden.
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Am 15. Januar 2018, vier Tage bevor er von der Polizei abgeholt wurde, erhielt Yu Wensheng einen Brief der Justizbehörde von Peking, in dem stand, dass seine Anwaltslizenz ausgesetzt würde, da er seit über sechs Monaten nicht bei einer registrierten Anwaltskanzlei beschäftigt gewesen sei. Ihn erreichte zudem ein weiterer Brief der Behörde, der auf den 12. Januar 2018 datiert war, der besagte, dass sein Antrag auf die Eröffnung einer Anwaltskanzlei abgelehnt worden sei, weil er sich wiederholt gegen die Kommunistische Partei ausgesprochen und den «sozialistischen Rechtsstaat» angegriffen habe.
Am 19. April 2018 erliess das Büro für Öffentliche Sicherheit der Stadt Xuzhou in der Provinz Jiangsu offiziell Haftbefehl gegen Yu Wensheng, weil er «zum Umsturz der Staatsmacht angestiftet» und «die Arbeit von Staatsbeamten behindert» haben soll. Er wurde daraufhin «an einem dafür vorgesehenen Ort unter Überwachung gestellt» – eine Massnahme, mit der strafrechtliche ErmittlerInnen Personen unter bestimmten Umständen für bis zu sechs Monate ausserhalb des formellen Haftsystems festhalten können. Dies kann unter bestimmten Umständen einer Form der geheimen Haft ohne Kontakt zur Aussenwelt gleichkommen. Wenn Inhaftierte unter dieser Form der «Überwachung» keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand ihrer Wahl, ihren Familien und allen anderen Menschen ausserhalb der Haft haben, sind sie erhöhter Gefahr ausgesetzt, gefoltert oder anderweitig misshandelt zu werden. Diese Art der Haft wird benutzt, um die Aktivitäten von MenschenrechtsverteidigerInnen, darunter Rechtsbeistände, AktivistInnen und Religionsausübende, zu unterdrücken. MenschenrechtsverteidigerInnen und andere AktivistInnen sind weiterhin systematischer Überwachung, Schikane, Einschüchterung, Festnahme und Inhaftierung ausgesetzt.
Am 1. Februar 2019 wurde gegen Yu Wensheng Anklage vor dem Mittleren Volksgericht von Xuzhou erhoben. Seine Rechtsbeistände wurden jedoch weder offiziell über die Anklage informiert noch erhielten sie Einsicht in die Akten.
Yu Wensheng wurde während seiner von Oktober 2014 bis Januar 2015 dauernden Haft im Untersuchungsgefängnis Daxing in Beijing gefoltert. Am 13. Oktober 2014 wurde er von Angehörigen des Büros für öffentliche Sicherheit von Daxing in Peking festgenommen, nachdem er seine Unterstützung für die pro-demokratischen Proteste in Hongkong ausgedrückt hatte. Seinen Angaben zufolge wurde er 61 Tage lang zusammen mit Häftlingen, die zum Tode verurteilt worden waren, festgehalten und etwa 200 Mal verhört. Yu Wensheng wurde rechtlicher Beistand in der Haft verweigert und zehn Angehörige der Staatssicherheit waren dazu abgestellt, ihn in drei Schichten täglich zu verhören. Zunächst wurde er nur verbal beleidigt. Später wurden seine Hände mit Handschellen an der Rückseite eines Eisenstuhls befestigt, wodurch seine Muskeln und Gelenke stark überdehnt wurden. Yu Wensheng gab an, dass zwei BeamtInnen immer wieder ruckartig an seinen Handschellen zogen und er jedes Mal aufschrie.
Im Oktober 2017 wurde Yu Wensheng erneut für kurze Zeit inhaftiert, nachdem er einen Offenen Brief geschrieben hatte, in dem er Präsident Xi Jinping kritisierte und sagte, dieser sei wegen seiner zunehmend «totalitären» Herrschaft ungeeignet, China zu regieren. Angehörige und FreundInnen von Yu Wensheng glauben, dass er sich momentan aufgrund dieses Briefes in Haft befindet.
Die chinesische Regierung begann am 9. Juli 2015, scharf gegen MenschenrechtsanwältInnen und andere AktivistInnen vorzugehen. In den darauffolgenden Wochen wurden fast 250 AnwältInnen und AktivistInnen von Angehörigen der Staatssicherheit befragt oder inhaftiert, und viele ihrer Büros und Wohnungen wurden durchsucht. Bisher sind zehn Personen wegen «Untergrabung der Staatsgewalt», «Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt» oder «Anfangen von Streit und Provozieren von Ärger» schuldig gesprochen worden. Zwei von ihnen befinden sich immer noch in Haft, drei haben Bewährungsstrafen erhalten und eine Person wurde nicht verurteilt, steht aber weiterhin unter Überwachung.