Ungarn verletzt Menschenrechte von Flüchtlingen
Ungarn verletzt die Menschenrechte von Flüchtlingen, indem ihnen der Zugang zu wirksamen Asylverfahren auf ungarischem Staatsgebiet verwehrt wird. Gesetzesänderungen, welche die «illegale» Einreise von Flüchtlingen und MigrantInnen kriminalisieren und die darauf abzielen, die Verantwortung Ungarns gegenüber denjenigen, die internationalen Schutz benötigen, abzugeben, müssen aufgehoben werden.
Am 15. September hat Ungarn seine Grenze zu Serbien mit einem Stacheldrahtzaun fast vollständig abgeriegelt und damit Tausenden von Flüchtlingen den Zugang zu ungarischem Staatsgebiet versperrt. Am gleichen Tag sind Änderungen des ungarischen Strafgesetzbuchs und Asylrechts in Kraft getreten. Die neuen Massnahmen beinhalten unter anderem die Kriminalisierung der «illegalen» Einreise, die nun mit bis zu drei Jahren Gefängnisstrafe geahndet werden kann, sowie die Schaffung von «Transitzonen», in denen täglich für eine geringe Anzahl an Asylsuchenden ein beschleunigtes Asylverfahren angewandt wird. Zuvor war am 1. August eine Änderung in Kraft getreten, durch die Serbien als «sicheres Transitland» eingestuft wurde. Dies würde es Ungarn ermöglichen, Anträge auf internationalen Schutz von Asylsuchenden abzulehnen, wenn diese über Serbien eingereist sind. Ungarn hat die Verantwortung, ein schnelles und wirksames Asylverfahren sicherzustellen und internationalen Schutz für diejenigen zu gewährleisten, die ihn benötigen. Diese Verantwortung kann nicht einfach an Drittländer wie Serbien abgeben werden, in denen das Asylsystem ineffektiv ist und der Zugang zu internationalem Schutz nicht gewährleistet ist. Ausserdem sind Flüchtlinge und Asylsuchende in Serbien aufgrund der Aufnahmebedingungen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.
Diese Gesetzesänderungen beschränken den Zugang von Flüchtlingen und Asylsuchenden zu schnellen und effektiven individuellen Asylverfahren sowie zu internationalem Schutz drastisch. Sie stellen deswegen einen direkten Verstoss gegen die internationalen Verpflichtungen Ungarns dar, die sich beispielsweise aus dem UN-Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge aus dem Jahr 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) ergeben, zu deren Vertragsstaaten Ungarn zählt.
Amnesty International hat mit zahlreichen Flüchtlingen und Asylsuchenden an der ungarisch-serbischen Grenze gesprochen, die weder Zugang zu Unterkünften noch zu Sanitäreinrichtungen oder Nahrungsmitteln haben. Am 16. September setzte die ungarische Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen Flüchtlinge und Asylsuchende ein, die eine Öffnung der Grenzen forderten. Mehr als ein Dutzend Menschen sind Berichten zufolge verletzt worden, darunter eine Person schwer.
Die Massnahmen, die Ungarn ergriffen hat, stellen eine eklatante Missachtung des Grundsatzes der Solidarität dar, der in Artikel 80 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegt ist. Darin wird die gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Umsetzung ihrer Asylpolitik gefordert. Die Europäische Kommission muss umgehend prüfen, ob die von Ungarn ergriffenen Massnahmen gegen Unionsrecht verstossen, und sicherstellen, dass Ungarn Unionsrecht umsetzt, indem unverzüglich ein offizielles Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wird.
Hintergrundinformationen
Mehr als 161.000 Menschen haben zwischen Januar und September 2015 in Ungarn Asyl beantragt. Dies stellt einen enormen Anstieg im Vergleich zum Vorjahr dar. 2014 waren nach Angaben des Amtes für Einwanderung und Staatsbürgerschaft 42.777 Personen registriert worden.
Als Reaktion auf die wachsende Anzahl Asylsuchender in Ungarn haben die ungarischen Behörden Rechtsvorschriften eingeführt, die den Zugang zum Land und zu Asylverfahren stark einschränken. Im August 2015 ist eine Änderung des Asylgesetzes in Kraft getreten, mit der eine Liste «sicherer Herkunftsländer» sowie «sicherer Transitländer» eingeführt wurde. Serbien, Mazedonien und EU-Mitgliedstaaten einschliesslich Griechenland gelten demnach als sicher.
Am 4. September verabschiedete das Parlament eine weitere Gesetzesänderung, die dieses Mal sowohl das Strafgesetzbuch als auch das Asylgesetz betraf. Mit der Änderung, die am 15. September in Kraft getreten ist, wurden strafrechtliche Sanktionen für Personen eingeführt, die über die sogenannte «Grenzbarriere» nach Ungarn einreisen. Zudem wurde mit der Änderung ein beschleunigtes Asylverfahren an der Grenze in den sogenannten «Transitzonen» eingeführt, in denen Anträge von Asylsuchenden auf internationalen Schutz innerhalb weniger Stunden bearbeitet werden.
VertreterInnen von Amnesty International haben sich die Situation in den Transitzonen an der ungarisch-serbischen Grenze am 15. und 16. September angesehen. Sie konnten beobachten, dass ein Grossteil der Asylanträge abgewiesen wurde, da die AntragstellerInnen über Serbien nach Ungarn eingereist waren. Die Entscheidungen, in denen die Möglichkeit eines Widerspruchs innerhalb von drei Tagen aufgeführt war, wurden ihnen in ungarischer Sprache vorgelegt. Während des Verfahrens waren Berichten zufolge DolmetscherInnen anwesend.
Seit dem 15. September droht jeder Person, die «illegal» den Grenzzaun nach Ungarn überwindet, die Abschiebung in das letzte Transitland oder eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren. Die Kriminalisierung der irregulären Einreise stellt eine unverhältnismässige Massnahme der Grenzkontrolle dar. Irreguläre Migration, darunter auch Einreise und Aufenthalt, sollte als Ordnungswidrigkeit behandelt werden. Die Kriminalisierung und Festnahme von Flüchtlingen verstösst gegen Artikel 31 des UN-Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge aus dem Jahr 1951, wonach die Verhängung von Strafen gegen Flüchtlinge, die irregulär in ein Land eingereist sind, verboten ist. In der Praxis haben Flüchtlinge oft keine andere Wahl als unter Verletzung der Einwanderungsgesetze in ein Land einzureisen.
Das ungarische Gesetz sieht zudem für die Beschädigung des Grenzzauns Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren vor. Jede Person, die Flüchtlingen dabei hilft, die Grenze zu überqueren, kann ausserdem mit einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden.
Nach der Änderung des Asylgesetzes aus dem August 2015, ist ein Antrag auf internationalen Schutz unzulässig, sofern es ein «sicheres Drittland» gibt, in dem sich der / die AntragstellerIn aufgehalten hat und dort die Möglichkeit hatte, Asyl zu beantragen. Laut Völkerrecht sind Staaten dafür verantwortlich Asylanträge, die auf ihrem Staatsgebiet oder in ihrem Zuständigkeitsbereich gestellt wurden, zu prüfen. Die Anwendung eines «sicheren Drittstaats»-Mechanismus erlaubt es Ungarn nicht, sich dieser Verantwortlichkeit zu entziehen, insbesondere im Hinblick auf seine Verpflichtung im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement). Amnesty International befürchtet, dass Ungarn durch die Anwendung einer Liste von «sicheren Drittstaaten» seine Verantwortlichkeit für Asylverfahren an Drittländer abgibt, ohne gründliche Überprüfung, ob für den / die AntragstellerIn individuell die Gefahr schwerer Menschenrechtsverletzungen besteht.
Die Überprüfung, ob ein / eine AntragsstellerIn über ein «sicheres Drittland» eingereist ist, findet im Rahmen der Überprüfung der Zulässigkeit des Antrags statt, bevor die Begründetheit des Antrags umfassend überprüft wird. Somit erlaubt das ungarische Asylrecht die Ablehnung eines Antrags ohne Berücksichtigung aller Umstände der antragstellenden Person. Der oder die Asylsuchende hat nur drei Tage Zeit, Rechtsmittel gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung einzulegen und muss nachweisen, dass in dem betreffenden Drittland kein «wirksamer Schutz» besteht. Diese schweren Mängel des ungarischen Asylrechts könnten zu einem Verstoss gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung führen.
Amnesty International lehnt den Gebrauch des Konzepts sicherer Drittstaaten grundsätzlich, und insbesondere im Fall von Serbien, ab. Durch die Lage in Serbien drohen Flüchtlingen und Asylsuchenden aufgrund eines ineffektiven Asylsystems Menschenrechtsverletzungen.