Zwei Tote und weitere Verletzte bei Polizeieinsatz
Bei Polizeieinsätzen am 8. und 9. September in Favelas in Rio de Janeiro wurden zwei Jugendliche im Alter von 13 und 16 Jahren erschossen. Eine 33-jährige Frau wurde durch einen Schuss ins Gesicht schwer verletzt. BewohnerInnen einer der Favelas haben berichtet, dass die Polizeieinsätze noch andauern und dabei auch Schusswaffen eingesetzt werden.
Am Morgen des 8. September spielte der 13-jährige Cristian Soares in der Favela Manguinhos in Rio de Janeiro mit Freunden Fussball, als Zivil- und Militärpolizei in einer gemeinsamen Operation in die Favela eindrangen und das Feuer eröffneten. Cristian Soares und andere Kinder sowie weitere BewohnerInnen der Favela versuchten, wegzurennen, um sich vor den Schüssen in Sicherheit zu bringen. Dabei wurde Cristian Soares von einer Kugel getroffen. Er war sofort tot. ZeugInnen gaben an, Angehörige der Polizei hätten versucht, die Leiche ohne vorherige sorgfältige Untersuchung vom Tatort zu entfernen und die Spuren dort zu manipulieren. BewohnerInnen konnten die Polizeikräfte jedoch daran hindern. Daraufhin wurden sie von Angehörigen der Polizei bedroht und eingeschüchtert. Videobeweise zeigen, dass die Polizeikräfte während des Einsatzes keinerlei Kennzeichnung trugen. Nach der Tötung protestierten die BewohnerInnen von Manguinhos gegen das Vorgehen der Polizei und blockierten die Strassen in der umliegenden Gegend.
Am gleichen Tag führte die Militärpolizei in der Favela Maré in Rio de Janeiro einen Einsatz durch, bei dem über einen langen Zeitraum Schüsse fielen. Die BewohnerInnen konnten ihre Häuser nicht verlassen, die Zu- und Ausgänge zu der Favela waren gesperrt, in einigen Häusern gab es keinen Strom und in den Schulen fand kein Unterricht statt. Eine 33-jährige Frau wurde durch einen Schuss ins Gesicht schwer verletzt. Sie befindet sich derzeit in einem kritischen Zustand. Am 9. September setzte die Militärpolizei ihren Einsatz in der Favela Maré fort. BewohnerInnen berichteten von heftigen Schiessereien. Während dieses Einsatzes wurde ein 16-jähriger Jugendlicher erschossen. Weitere Menschen sollen verletzt worden sein. Aufgrund des fortgesetzten Schusswaffeneinsatzes ist es jedoch schwierig, nähere Informationen zu erhalten. Die BewohnerInnen können ihre Häuser wieder nicht verlassen und nicht zur Arbeit gehen. Sämtliche Schulaktivitäten sind erneut eingestellt worden.
Hintergrundinformationen
Amnesty International dokumentiert seit langem die schockierende Taktik der Polizei während Einsätzen in Favelas in Rio de Janeiro, die auf dem Prinzip «Erst schiessen, dann fragen» beruht. Am 3. August wurde der englischsprachige Bericht «You killed my son»: homicides by the military police in the city of Rio de Janeiro (http://www.amnesty.org/en/documents/AMR19/2068/2015/en/) veröffentlicht. Darin verurteilt Amnesty International die unnötige und unverhältnismässige Anwendung von Gewalt sowie aussergerichtliche Hinrichtungen durch die Polizei in Rio de Janeiro. Im Laufen von zehn Jahren (2005 – 2014) wurden im Bundesstaat Rio de Janeiro 8.466 Tötungen durch PolizistInnen registriert, 5.132 davon in der Stadt Rio de Janeiro. Obwohl die Zahlen zwischen 2007 und 2013 zurückgegangen sind, stiegen sie zwischen 2013 und 2014 um 39,4%. Die Anzahl der Tötungen durch PolizistInnen im Dienst stellt einen signifikanten Prozentsatz aller Tötungen dar: im Jahr 2014 belief sich dieser in der Stadt Rio de Janeiro auf 15,6%.
Die meisten Fälle von Tötungen durch Angehörige der Polizei werden nie untersucht und die Verantwortlichen nur selten vor Gericht gebracht. Durch diese Straflosigkeit dreht sich die Spirale der Gewalt immer weiter. Eine von Amnesty International durchgeführte Überprüfung aller im Jahr 2011 in der Stadt Rio de Janeiro eröffneten 220 Untersuchungen zu Tötungen durch die Polizei hat ergeben, dass vier Jahre später lediglich ein einziger Fall zu einer Anklage gegen einen Polizisten geführt hat. Im April 2015 waren 183 Untersuchungen noch nicht abgeschlossen. Durch diese Überprüfung konnte ausserdem ein klares Profil der Opfer von Tötungen durch die Polizei erstellt werden: junge Männer, afrobrasilianischer Herkunft, die in Favelas leben. Zwischen 2012 und 2013 waren beinahe alle Todesopfer männlich (99,5%), 79% waren afrobrasilianischer Herkunft und 75% zwischen 15 und 29 Jahre alt.
In keiner anderen Favela kommen bei Polizeieinsätzen mehr Menschen ums Leben als in der Favela Manguinhos in Rio de Janeiro, und Gewalt durch Angehörige der Polizei während dieser Einsätze ist weit verbreitet. Johnathan de Oliveira Lima wurde am 14. Mai 2014 im Alter von 19 Jahren von Angehörigen der Militärpolizei der UPP (Unidades de Polícia Pacificadora – Befriedende Polizeieinheit) von Manguinhos getötet. Paulo Roberto Pinho de Menezes, auch bekannt unter dem Namen «Nêgo» kam am 17. Okober 2013 im Alter von 18 Jahren durch MilitärpolizistInnen der UPP ums Leben. Keiner dieser Fälle wurde bisher vor Gericht gebracht.
Am 6. November 2012 rief Amnesty International zusammen mit den brasilianischen NGOs Network for Development of Maré (Redes de Desenvolvimento da Maré) und Favela Watch (Observatório de Favelas) die Kampagne We are from Maré and we have rights (Wir kommen aus Maré und wir haben Rechte) ins Leben, im Rahmen derer rund 50.000 Informationspakete an die BewohnerInnen der Favela Maré in Rio de Janeiro verteilt wurden. Die Kampagne zielte darauf ab, Menschenrechtsverletzungen bei Polizeieinsätzen in der Favela zu verhindern. In Maré leben rund 132.000 Menschen, verteilt auf 16 Gemeinden. Die Favela besteht aus verschiedenen Slums und informellen Siedlungen, die sich zwischen den Hauptzugangsstrassen zu Rio de Janeiro, in der Nähe des internationalen Flughafens befinden. Die BewohnerInnen leben dort zusammen mit organisierten kriminellen Gruppen und Milizen (milícias), bei denen es sich um kriminelle Banden handelt, die sich grösstenteils aus ehemaligen Angehörigen der Sicherheitskräfte ausser Dienst zusammensetzen. Die Beziehung zwischen der Polizei und den BewohnerInnen Maré ist gekennzeichnet von Gewalt und Verstössen, wovon besonders junge AfrobrasilianerInnen betroffen sind.