Zeuge muss vor Folter geschützt werden
Gennady Afanasiyev, ein entscheidender Zeuge der Anklage im Verfahren gegen die ukrainischen Aktivisten Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko, hat seine Aussage, die er unter Folter gemacht hatte, zurückgezogen. Jetzt ist er bedroht worden und erneut in Gefahr, gefoltert oder auf andere Weise misshandelt zu werden.
Gennady Afanasiyev ist ein wichtiger Zeuge der Anklage im Gerichtsverfahren gegen die beiden ukrainischen Aktivisten Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko, das gegenwärtig vor einem Militärgericht in der Stadt Rostow am Don im Süden Russlands stattfindet. Amnesty International befürchtet, dass Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko allein deshalb zur Zielscheibe der Behörden geworden sind, weil sie sich gegen die russische Besetzung der Krim ausgesprochen haben. Als Gennady Afanasiyev am 31. Juli im Verfahren gegen die beiden Aktivisten aussagen sollte, verweigerte er dies mit der Begründung, er habe nach seiner ersten Festnahme unter Zwang ausgesagt. Seitdem haben Angehörige des Staatssicherheitsdienstes Gennady Afanasiyev mehrfach in seiner Zelle aufgesucht – sowohl im Gerichtsgebäude als auch im Untersuchungsgefängnis – und ihm und seinen Familienangehörigen gedroht. Vor seiner Aussage vor Gericht hatten Angehörige der Staatssicherheit ihm gedroht, wenn er nicht bei seiner Aussage bleibe, werde er seine Strafe unter harten Bedingungen «mit den Eisbären» verbüssen.
Bei einem Treffen mit der Gefängnisaufsichtsbehörde von Rostow am Don am 4. August gab Gennady Afanasiyev an, nach seiner Inhaftierung am 9. Mai 2014 aufgefordert worden zu sein, Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko zu belasten. Als er sich weigerte, wurde er geschlagen und gefoltert. Am 5. August 2015 suchten ihn Angehörige der Staatssicherheit auf und fragten ihn, wer ihn aufgefordert habe, seine Aussage zurückzuziehen. Als er sich weigerte, darauf zu antworten, wurde er gegen das Schienbein getreten. Seine Familie und sein Rechtsbeistand konnten ihn am 8. und 9. August nicht erreichen und waren um seine Sicherheit besorgt. Als sein Anwalt ihn schliesslich am 13. August besuchen durfte, stellte er fest, dass Gennady Afanasiyev Blutergüsse am Schienbein hatte, die seine Vorwürfe, getreten worden zu sein, bestätigten.
Gennady Afanasiyev wurde ebenso wie Oleg Sentsov, Aleksandr Kolchenko und Aleksei Chirny im Mai 2014 festgenommen. Die vier Männer sind ukrainische Staatsbürger und Bewohner der Krim. Ihnen werden terroristische Straftaten zur Last gelegt, weil sie an Brandanschlägen auf zwei Organisationen beteiligt gewesen sein sollen, die die Besetzung der Krim durch Russland unterstützen. Ihnen werden ausserdem geplante Anschläge auf die Lenin-Statue sowie auf die Gedenkstätte «Ewige Flamme» in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, vorgeworfen. Die Männer wurden am 23. Mai 2014 nach Moskau gebracht, um dort vor Gericht gestellt zu werden, was einen Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht darstellt. Gennady Afanasiyev wurde im Dezember 2014 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Er hat zugegeben, Brandanschläge auf Organisationen, die die Besetzung der Krim unterstützen, begangen zu haben, bestreitet aber, dass es sich dabei um Terroranschläge gehandelt habe.
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Gennady Afanasiyev wurde am 17. Dezember 2014 vom Moskauer Stadtgericht zu sieben Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Er willigte ein, als Zeuge der Anklage gegen Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko auszusagen. Aleksei Chirny, der ebenfalls ein Zeuge der Anklage war, wurde am 21. April 2015 vom Militärgericht in Rostow am Don ebenfalls zu sieben Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Grundlage waren dieselben Anklagen wie im Fall Gennady Afanasiyev. Aleksei Chirny weigerte sich jedoch, gegen Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko auszusagen, und bezog sich dabei auf sein Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen. Sein Rechtsbeistand hatte zuvor angegeben, dass Aleksei Chirny misshandelt worden und ihm eine geringere Strafe versprochen worden sei, sollte er sich schuldig bekennen und Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko belasten. Der Rechtsbeistand wurde von dem Fall abgezogen.
Amnesty International befürchtet, dass Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko allein deshalb zur Zielscheibe der Behörden geworden sind, weil sie sich gegen die russische Besetzung der Krim ausgesprochen haben. Mit einer Urgent Action werden die russischen Behörden aufgefordert, die Anklagen wegen mutmasslicher terroristischer Straftaten gegen die beiden Männer fallenzulassen und sie entweder einer erkennbar strafbaren Handlung anzuklagen oder sofort freizulassen (s. UA-170/2015, https://www.amnesty.de/urgent-action/ua-170-2015/terrorismusvorwuerfe-fallenlassen).