Todesurteile nach unfairem Verfahren
Ein libysches Gericht hat am Dienstag neun hochrangige Funktionäre des früheren Regimes zum Tode verurteilt. Unter ihnen befanden sich der Sohn von Muammar al-Gaddafi, Saif al-Islam al-Gaddafi, und der ehemalige Geheimdienstchef Abdallah al-Senussi. Das Gerichtsverfahren wies schwerwiegende Mängel auf.
Der Prozess gegen Funktionäre des Regimes von Muammar al-Gaddafi, in Libyen bekannt als Verfahren gegen die „Symbole des ehemaligen Regimes“, begann am 24. März 2014 und endete am 21. Mai 2015. Die Urteile ergingen am 28. Juli. Angeklagt waren Saif al-Islam al-Gaddafi und Abdallah al-Senussi sowie 35 weitere ehemalige Funktionäre, darunter Diplomaten und Minister sowie Angehörige der Sicherheitsdienste. Ihnen wurde vorgeworfen, während des Aufstandes gegen Diktator Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 zahlreiche Verbrechen begangen zu haben, darunter willkürlicher Beschuss, Aufhetzung zu Vergewaltigung, Anordnung der Tötung von Demonstrierenden, Anheuerung und Bewaffnung von Söldnern sowie Vandalismus. Nach erneuten gewalttätigen Auseinandersetzungen in Libyen herrschen dort nun zwei unterschiedliche Regierungen. Das Justizministerium der international anerkannten Regierung liess bereits verlauten, dass es das Gerichtsurteil nicht anerkennen werde.
Ebenfalls zum Tode verurteilt wurden der ehemalige Premierminister Al-Baghdadi al-Mahmoudi, der Kommandant der Revolutionsgarde Mansour Daw Ibrahim Mansour, der Leiter der Agentur für äussere Sicherheit Abu Zeid Omar Dorda, der Leiter der Sicherheitsabteilung in Tripolis Milad Salman Daman, der Brigadegeneral Mondher Mukhtar al-Gheneimi, der Oberst des Militärgeheimdienstes Abdel Hamid Ammar Awheida Amer sowie ein Mitarbeiter der juristischen Fakultät an der Universität Tripolis, Awaidat Ghandur Abu Sufa. Weitere 23 Angeklagte erhielten Haftstrafen von zwischen fünf Jahren und lebenslänglich. Vier Personen wurden freigesprochen und ein Angeklagter wurde ohne Verurteilung an eine Klinik für psychische Erkrankungen überwiesen. Man geht davon aus, dass die Verurteilten vor der Kassationskammer des Obersten Gerichtshofs Rechtsmittel einlegen werden.
Das Verfahren gegen die neun Männer wies sowohl in der Ermittlungsphase als auch im Gerichtssaal schwere Mängel auf. Insbesondere sorgten die Behörden nicht für die Einhaltung der Verfahrensrechte der Angeklagten, darunter das Recht auf einen Rechtsbeistand, das Recht zu schweigen, das Recht auf Anwesenheit vor Gericht sowie das Recht, unverzüglich über die erhobenen Anklagen informiert zu werden. Einige der Angeklagten wurden über längere Zeit hinweg ohne Kontakt zur Aussenwelt in inoffiziellen Hafteinrichtungen festgehalten. Darüber hinaus gingen die Behörden den Angaben einiger Rechtsbeistände nicht nach, denen zufolge die Männer gefoltert und anderweitig misshandelt worden sein sollen.
Hintergrundinformationen
Vielen der 37 Angeklagten im Verfahren gegen die „Symbole des ehemaligen Regimes“ wurden grundlegende Rechte verwehrt, so z. B. das Recht auf einen Rechtsbeistand, das Recht zu schweigen, das Recht auf Anwesenheit vor Gericht sowie die Rechte, unverzüglich über die erhobenen Anklagen informiert zu werden und gegen die vorgelegten Beweise vorzugehen. Einige der Angeklagten wurden über längere Zeit hinweg ohne Kontakt zur Aussenwelt in inoffiziellen Hafteinrichtungen festgehalten. Saif al-Islam al-Gaddafi wird von einer staatsnahen Miliz in der westlibyschen Stadt Sintan festgehalten. Er wurde in Abwesenheit verurteilt und genau wie sieben weitere Angeklagte, die in Misrata festgehalten wurden, per Video zugeschaltet. Zeitweise war die Satellitenübertragung jedoch unzureichend, so dass die Angeklagten Schwierigkeiten hatten, dem Verfahren zu folgen. Saif al-Islam al-Gaddafi wurde nur an vier von 24 Gerichtsterminen per Video in den Gerichtssaal zugeschaltet. Die Übertragungen wurden eingestellt, als 2014 im Westen des Landes erneut Konflikte ausbrachen und die Sintan-Milizen von ihren Rivalen aus Tripolis vertrieben wurden. Amnesty International fordert schon seit Langem die Auslieferung von Saif al-Islam al-Gaddafi an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), dem ein entsprechender Haftbefehl vorliegt. Mondher al-Gheneimi, ein hochrangiger Polizeibeamter, war bei zahlreichen Gerichtsterminen nicht anwesend, da er in einer inoffiziellen Einrichtung am Militärflughafen von Mitiga festgehalten wurde, die von einer Miliz kontrolliert wird. Die meisten Rechtsbeistände der Angeklagten, die im al-Hadba-Hochsicherheitsgefängnis festgehalten wurden, sagten vor Gericht und gegenüber Amnesty International, dass ihnen trotz einer entsprechenden Genehmigung der Staatsanwaltschaft private Treffen mit ihren Mandanten untersagt worden seien. Im al-Hadba-Hochsicherheitsgefängnis werden zahlreiche Funktionäre und Sympathisanten des ehemaligen Regimes festgehalten. Die Rechtsbeistände berichteten zudem von Schwierigkeiten bei der Einsicht von Akten, die von der Staatsanwaltschaft über 22 Monate hinweg erstellt worden waren und aus tausenden Dokumenten bestanden, darunter etwa 240 Zeugenaussagen. Während der Haft wurde den meisten Angeklagten der Zugang zu einem Rechtsbeistand verwehrt. Stattdessen wurden sie bereits verhört, bevor man ihnen überhaupt einen Rechtsbeistand zugewiesen hatte; somit war während der Vernehmungen auch kein Anwalt anwesend. Dies verstösst gegen libysches Recht. Berichten zufolge sollen manche Rechtsbeistände während des Prozesses schikaniert und eingeschüchtert worden sein, so dass einige der Angeklagten, unter ihnen Abdallah al-Senussi und Abu Zeid Omar Dorda, mit einer wechselnden Verteidigung Vorlieb nehmen mussten. Die Familie von Abdallah al-Senussi hatte grosse Schwierigkeiten, einen Rechtsbeistand für ihn zu finden. Wenige Tage vor dem zweiten Gerichtstermin erhielt er schliesslich einen privaten Rechtsbeistand, welcher jedoch noch während des laufenden Verfahrens sein Mandat aus medizinischen und anderen Gründen niederlegte. Laut Abu Zeid Omar Dorda gaben zwei seiner Rechtsbeistände den Fall ab, weil sie bedroht wurden. Ein dritter Rechtsbeistand wurde daran gehindert, ihn zu verteidigen. Zahlreiche Angeklagte berichteten von Folter und anderer Misshandlung. Abu Zeid Omar Dorda, der ehemalige Leiter der Agentur für äussere Sicherheit, stürzte während seiner Vernehmung aus einem Fenster im zweiten Stockwerk und zog sich dabei Verletzungen zu. Die Umstände des Vorfalls sind bisher nicht umfassend untersucht worden. Im Februar 2015 gab Abdallah al-Senussi an, seit zweieinhalb Jahren in Einzelhaft gehalten worden zu sein. Al-Baghdadi al-Mahmoudi sagte am 20. Mai vor Gericht aus, gefoltert worden zu sein, der Richter tat dies jedoch ab. Die libyschen Gesetze sehen vor, dass Todesurteile innerhalb von 30 Tagen nach Urteilsverkündung von der Kassationskammer des Obersten Gerichtshofs geprüft werden müssen. Der Oberste Gerichtshof hat die Möglichkeit, das Urteil aufrechtzuerhalten oder die Rechtsmittel zuzulassen und eine Neuverhandlung vor einem anderen Richter anzuordnen. Sollte der Oberste Gerichtshof die Rechtsmittel ablehnen, gilt das Urteil als endgültig. Ein Todesurteil kann erst dann vollstreckt werden, wenn der Hohe Justizrat es bestätigt hat. Das Gerichtsverfahren fand vor dem Hintergrund erneuter Konflikte statt, die 2014 zum Zusammenbruch der Zentralregierung und einer Teilung der staatlichen Institutionen führten. Seither begehen beide Seiten schwere Menschenrechtsverletzungen und Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, von denen manche Kriegsverbrechen gleichkommen. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen haben dazu geführt, dass die internationale Gemeinschaft den Gerichtsprozess nur sehr eingeschränkt überwachen konnte und dass das Strafrechtssystem sich weiter verschlechtert hat.