Strassenproteste könnten zu Straftatbestand werden
Dem russischen Parlament liegt ein Gesetzesentwurf vor, der den wiederholten Verstoss gegen die bereits jetzt restriktiven Gesetze über öffentliche Versammlungen zur Straftat macht.
Der Gesetzesentwurf Nr. 485729-6 „Über die Änderung einiger Gesetzgebungsakte der Russischen Föderation (bezüglich der Verbesserung der Gesetze über öffentliche Versammlungen)“ wurde am 31. März von drei Abgeordneten der Staatsduma eingebracht. Zurzeit stellt die Missachtung der rechtlichen Vorschriften über die Organisation und Durchführung von Mahnwachen, Demonstrationen und anderen öffentlichen Versammlungen eine Ordnungswidrigkeit dar, die im Fall von Privatpersonen mit einer Strafe von bis zu 20.000 russischen Rubeln (etwa 413 Euro) oder bis zu 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit geahndet wird. Im Fall von Staatsbediensteten und bei Demonstrationen, über die die Behörden zuvor nicht unterrichtet wurden, fallen die Strafen höher aus. Der Gesetzesentwurf sieht eine Verschärfung der Strafen vor, insbesondere für einen zweiten Verstoss innerhalb von sechs Monaten, und führt strafrechtliche Verantwortlichkeit und bis zu fünfjährige Gefängnisstrafen für einen dritten Verstoss ein.
Nicht genehmigte öffentliche Protestveranstaltungen, mögen sie auch noch so friedlich und klein angelegt sein, werden regelmässig durch die russische Polizei aufgelöst, oft unter Anwendung unverhältnismässiger Gewalt und bei gleichzeitiger Festnahme von Demonstrierenden. In vielen Fällen werden Demonstrierende wegen der Verletzung der Vorschriften über öffentliche Proteste mit Geldstrafen belegt. Für den Verstoss gegen die „rechtmässigen Anordnungen“ der Polizei werden sie sogar bis zu 15 Tage inhaftiert. Die Strafen werden ihnen oft in unfairen Gerichtsverfahren auferlegt, in denen die RichterInnen die jeweiligen unbegründeten Aussagen der PolizeibeamtInnen gegen die „StraftäterInnen“ häufig ohne Nachfragen hinnehmen und sich weigern, Videoaufnahmen des entsprechenden Vorfalls und andere Gegenbeweise zu berücksichtigen. Der Gesetzesentwurf Nr. 485729-6 erhöht die maximale Haftdauer für die gleiche Straftat auf 30 Tage. Zudem führt er eine 15-tägige Haftstrafe für eine Reihe anderer vermeintlicher Delikte ein, darunter die Behinderung von FussgängerInnen.
Damit das Gesetz in Kraft treten kann, wird nun ein Sonderausschuss der russischen Duma darüber beraten. Anschliessend müssen sowohl das Unter- als auch das Oberhaus des Parlaments dem Gesetzesentwurf zustimmen, bevor er vom Präsidenten unterzeichnet werden kann.
HINTERGRUNDINFORMATIONEN
Amnesty International hat wiederholt ihre Sorge über die fortwährende Unterdrückung der Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit in Russland und über die Einführung zunehmend restriktiver Gesetze und Praktiken im Hinblick auf friedliche Demonstrierende, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), unabhängige Medien und das Internet sowie Angehörige der LGBT-Gemeinschaft und andere ausgedrückt. Details finden Sie im englischsprachigen Bericht Freedom under threat: The clampdown against freedoms of expression, assembly and association in Russia (http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR46/011/2013/en) und in der ebenfalls englischsprachigen Presseerklärung “The Russian authorities accelerate their assault on freedom of assembly” (http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR46/018/2014/en). Das Föderale Gesetz der Russischen Föderation „Über Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märsche und Mahnwachen“ enthält bereits Bestimmungen, die die effektive Verwirklichung der Rechte auf freie Meinungsäusserung und Versammlungsfreiheit, welche in internationalen Menschenrechtsverträgen und der russischen Verfassung anerkannt sind, untergraben. Im Juni 2012 wurde das Gesetz dahingehend abgeändert, dass die Liste der Verstösse gegen Gesetze über öffentliche Veranstaltungen erweitert wurde. Sie schliesst nun die Verantwortlichkeit der VeranstalterInnen für die Handlungen von TeilnehmerInnen ein, darunter die Behinderung von FussgängerInnen oder des Strassenverkehrs sowie die Verschmutzung und Beschädigung von Grünflächen. Ausserdem wurden die Geldstrafen für solche Verstösse durch das Gesetz stark angehoben. Die eingeführten Geldstrafen und Sanktionen sind sehr viel höher als diejenigen, die für das Herbeiführen von ähnlichen Schäden ausserhalb von Protesten gelten. Das aktuelle Gesetz untersagt Personen, die im vorangehenden Jahr zweimal oder mehrmals wegen der Verletzung der Vorschriften über die Organisation von Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen festgenommen wurden, die Organisation weiterer öffentlicher Veranstaltungen. Entsprechend der Verpflichtungen gemäss den internationalen Menschenrechtsbestimmungen sind die russischen Behörden verpflichtet, das Recht auf friedliche Versammlungen zu achten, zu schützen und zu erfüllen. Der Staat hat eine Verpflichtung zur rechtlichen und tatsächlichen Durchsetzung des Rechts auf friedliche Versammlungen. Der UN-Sonderberichterstatter für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit hat hervorgehoben, dass die Ausübung dieses Rechts nicht der Genehmigung durch Regierungsbehörden, sondern höchstens eines nicht mühsamen Verfahrens zur vorherigen Unterrichtung bedürfen sollte. Ausserdem sollten selbst in Fällen, in denen die Demonstrierenden die Behörden nicht im Vorfeld unterrichten, gegen die VeranstalterInnen friedlicher Veranstaltungen keine straf- oder verwaltungsrechtlichen Sanktionen verhängt werden (englischsprachiger Bericht: Report of the Special Rapporteur on the rights to freedom of peaceful assembly and association, Maina Kiai, Human Rights Council Twentieth session, 21 May 2012, http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/RegularSession/Session20/A-HRC-20-27_en.pdf).