200 Familien obdachlos
Am 23. Oktober 2010 wurde die im Nordosten von Kairo liegende informelle Siedlung Ezbet Abu Rgela von Abwasser überflutet. 200 Familien, die dort in Behelfsunterkünften gelebt hatten, wurden dadurch obdachlos. Sie benötigen dringend Ersatzunterkünfte.
Die Überschwemmung hatte sich ereignet, nachdem offenbar ein Bewohner der Siedlung mit einem in den Abwas-serkanal reichenden defekten Elektrokabel in Berührung gekommen war und dadurch zu Tode kam. Die Polizei wurde alarmiert, und die für die Siedlung zuständige Behörde schickte einen Bulldozer, um den Toten zu bergen. Das Fahrzeug beschädigte dabei Berichten zufolge die Kanalwand und verursachte ein Leck, durch welches das Abwasser austreten konnte. Nach Auskunft der BewohnerInnen von Ezbet Abu Rgela verstärkten die Behörden den Bereich des Lecks und entsandten Fahrzeuge, mit denen das Wasser abgepumpt wurde. Die AnwohnerInnen versuchten ihrerseits, den Kanal mit Sand und Gegenständen abzudichten. In einigen Häusern stand das Abwasser jedoch schon meterhoch, andere waren aufgrund eingestürzter Mauern unbewohnbar. Sieben Häuser stürzten zu-sammen.
Insgesamt wurden 200 Familien obdachlos, vor allem jene, deren Wohnungen unterhalb des Wasserspiegels des Kanals gelegen hatten. Derzeit übernachten die betroffenen Familien auf den Strassen in der Nähe ihrer einstigen Häuser, um ihre verbliebenen Besitztümer zu bewachen. In den Nachtstunden schützen sie sich durch offene Feuer-stellen vor herumstreunenden Tieren und anderen Gefahren. Die Behörden vor Ort haben den Familien weder über-gangsweise eine Unterkunft angeboten noch dafür gesorgt, dass sie dauerhaft neuen Wohnraum erhalten.
Die ägyptische Nichtregierungsorganisation für das Recht auf Wohnen (Egyptian Centre for Housing Rights) hat bei der Staatsanwaltschaft Klage zugunsten von 55 Familien eingereicht und gefordert, ihnen eine Unterkunft bereit zu stellen und sie mit dem Nötigsten zu unterstützen. Einige der Familien fanden in einer nahen Moschee eine vorü-bergehende Bleibe und werden dort mit Nahrungsmitteln und Decken versorgt. Andere Familien konnten bei FreundInnen oder Bekannten unterkommen.
Am 10. Oktober 2010 gab die Verwaltung von Kairo nach vorliegenden Meldungen bekannt, in der südöstlich von Gizeh gelegenen Stadt 6 October City Wohnraum für die BewohnerInnen von Ezbet Abu Rgela und anderer „unsi-cherer Viertel“ der Hauptstadt Kairo schaffen zu wollen. Ein direktes Gespräch mit den Betroffenen über die Pläne der Stadtverwaltung hat nicht stattgefunden.
Hintergrundinformationen
Die Ortschaft Ezbet Abu Rgela liegt in der Nähe des Flughafengeländes von Kairo. Sie erstreckt sich entlang eines oberirdischen Abwasserkanals, so dass die BewohnerInnen vor allem während der Regenfälle im Winter ständig mit Überschwemmungen rechnen müssen. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen lebt in ärmlichen Verhältnissen und zahlt eine monatliche Miete von 100 bis 250 ägyptischen Pfund (umgerechnet rund 18 bis 30 EURO). Die meisten BewohnerInnen arbeiten als TagelöhnerInnen oder in der Abfallaufbereitung. Die Siedlung ist in den 1970er Jahren angewachsen, als die BewohnerInnen vornehmlich im Besitz der Armee befindliche Ländereien an sich brachten. In den zurückliegenden Jahren haben sie das Fehlen grundlegender Infrastrukturmassnahmen beklagt, beispielsweise eine mangelnde Versorgung mit Wasser, Strom und sanitären Einrichtungen. Die Frauen fühlten sich auf den Strassen nicht sicher, Kinder sollen in den offenen Abwasserkanälen ertrunken sein. Ausserdem drohten der Ausbruch von Feuer und Stromschläge infolge nicht sachgemäss verlegter Leitungen. Auch vom Schienenverkehr zwischen Kairo und Suez gehen Gefahren aus, da die Gleise ohne Sicherheitsabzäunung durch Ezbet Abu Rgela führen.
Die Entwicklungsgesellschaft für informelle Siedlungen (Informal Settlement Development Facility – ISDF), eine vom ägyptischen Staatschef im Jahr 2008 ins Leben gerufene Einrichtung, weist Ezbet Abu Rgela als eine von 53 für die BewohnerInnen „nicht sichere Gebiete“ der Hauptstadt Kairo aus. Die ISDF koordiniert Pläne und Vorhaben der Regierung im Umgang mit informellen Siedlungen und räumt dabei „nicht sicheren Gebieten“ vorrangigen Handlungsbedarf ein. Amnesty befürchtet jedoch, dass derartige Pläne ohne Rücksprache mit den Menschen vor Ort erarbeitet werden und damit die Gefahr bergen, dass es zu Zwangsräumungen kommt. Die Organisation hat Pläne kritisiert, die im Grossraum Kairo und in Assuan die Räumung von 33 „nicht sicheren Gebieten“ vorsehen. Die meisten davon befinden sich in Staatsbesitz. Zwangsräumungen werden in der Regel von den örtlichen Behörden mit Unterstützung der Polizei vorgenommen. Amnesty hat die Zwangsräumung der informellen Siedlungen Manshiyet Nasser, Establ Antar und Ezbet Khayrallah dokumentiert, den grössten derartigen Siedlungen in Kairo. Mitte Juni 2008 unternahm die Militärpolizei den Versuch, die Siedlung Ezbet Abu Rgela zu räumen und die dorti-gen Häuser abzureissen, um die Erweiterung eines benachbarten Gartengrundstücks zu ermöglichen. Als die BewohnerInnen sich dem Vorhaben widersetzten, wurde ihnen von der Militärpolizei eine Frist von zwei Wochen gewährt und gedroht, dass man den Räumungsbefehl am 30. Juni 2008 nötigenfalls auch unter Einsatz von Gewalt ausführen werde. An dem fraglichen Tag wurden die BewohnerInnen von Mitgliedern der Nichtregierungsorganisation für das Recht auf Wohnen (Egyptian Center for Housing Rights) und der Jugendbewegung des 6. April (6 April Youth Movement) unterstützt. Beide Organisationen schalteten darüber hinaus die Medien ein. Letztlich unterblieb die Räumung der Siedlung, die dortigen Wohnbedingungen sind aber noch immer erbärmlich.