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FI 227/10-1
Niederlande
Abgeschlossen am 4. November 2010

Abschiebungen vorerst ausgesetzt

AI-Index: EUR 35/004/2010

Die niederländischen Behörden haben die Abschiebungen irakischer Flüchtlinge ausgesetzt, die am 3. November per Flugzeug nach Bagdad gebracht werden sollten. Anlass dazu gab ein scharf formulierter Brief des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an die niederländischen Behörden.

Der vorläufige Abschiebungsstopp folgte einer einstweiligen Anordnung des EGMR vom 22. Oktober, welche die niederländischen Behörden daran hindern sollte, alle IrakerInnen nach Bagdad auszuweisen, die ihre Abschiebung anfechten. Der EGMR schickte der niederländischen Regierung am 22. Oktober einen Brief mit der Erklärung, er habe die Entscheidung getroffen „angesichts der zunehmenden Anzahl von Anträgen aufgrund der Vorschrift 39 der Verfahrensordnung für vorübergehende Massnahmen von Personen, die ihre Rückkehr nach Bagdad mit einzeln oder von mehreren Ländern gemeinsam organisierten Charterflügen aus europäischen Staaten verhindern möchten, sowie angesichts der mutmasslichen aktuellen Verschlechterung der Sicherheitslage in Bagdad und anderen Regierungsbezirken“. Darüber hinaus beinhaltete der Brief, dass der EGMR die anhaltenden Sorgen des Hochkommissars für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) hinsichtlich der Sicherheit der in den Irak zurückkehrenden Flüchtlinge zur Kenntnis genommen habe. Der EGMR forderte die niederländischen Behörden auf, die Abschiebungen von IrakerInnen einzustellen, bis er sein Urteil gefällt habe. Dieses Urteil wird noch in diesem Jahr erwartet. Der EGMR gab an, dass solche Massnahmen bei allen IrakerInnen anzuwenden sei, die „ihre Rückkehr aus den Niederlanden nach Bagdad anfechten“.

Am 3. November schickte der EGMR den niederländischen Behörden einen eindringlichen Brief, in dem er sie an seinen vorangegangenen Brief erinnerte und einen „ausserordentlichen Hinweis“ gab, dass der Präsident des EGMR befände, dass „keine Ausweisungen von Asylsuchenden, deren Antrag abgelehnt wurde, bis zum 24. November 2010 durchgeführt werden sollen“. Der EGMR schrieb diesen zweiten Brief, nachdem er Berichte erhalten hatte, dass 15 bis 30 irakische Staatsangehörige, die vor der Abschiebung standen, weder Zugang zu ihren AnwältInnen noch zum EGMR erhielten, um zu versuchen, vorübergehende Massnahmen gegen ihre Ausweisungen zu erwirken.

Am 2. November stimmte das niederländische Parlament in einer kurzfristig anberaumten Debatte mit knapper Mehrheit ab, dass die Abschiebungen von IrakerInnen bis zur Bekanntgabe der Entscheidung des EGMR nicht ausgesetzt werden. Der niederländische Minister für Asyl und Einwanderung bestätigte nun jedoch, dass die Niederlande dem Antrag des EGMR nachkommen werden. Das niederländische Parlament hält am Abend des 4. Novembers eine weitere kurzfristige Debatte zum Thema der Abschiebungen in den Irak ab.

Amnesty International forderte die europäischen Staaten auf, von jeglichen Abschiebungen in den Irak abzusehen, besonders in die Provinzen Ninewa (Mosul), Kirkuk, Diyala, Salah al-Din und Baghdad, sowie in andere besonders gefährliche Regionen wie Teilen der Provinz Al-Anbar. IrakerInnen aus diesen Gegenden sollte Asyl oder andere Schutzmassnahmen gewährt werden. In diesen Regionen des Irak bestehen stichhaltige Gründe für internationalen Schutz, da durch Gewalt oder andere Ereignisse, welche die öffentliche Ordnung in hohem Masse stören, weiterhin willkürliche Bedrohungen für Leben, körperliche Integrität und Freiheit bestehen. Im Falle von Asylsuchenden aus anderen Provinzen des Irak sollte im Einzelfall geprüft werden, ob sie für den Flüchtlingsstatus oder eine andere Form des Schutzes infrage kommen. Eine solche Prüfung der Schutzbedürftigkeit sollte auch die Passierbarkeit und Sicherheit der Wege von Bagdad zu dem als Wohnort anvisierten Reiseziel im Irak einschliessen. Darüber hinaus müsste den Menschen Schutz gewährt werden, wenn ihnen auf der Reise Verfolgung oder Gefahr für Leib und Leben drohen könnte. Die niederländischen Behörden argumentieren gemeinsam mit den Behörden von Dänemark, Schweden, Norwegen und Grossbritannien, dass die Lage im Irak "ausreichend sicher" sei, um weiter irakische Staatsangehörige abzuschieben, deren Asylanträge abgelehnt wurden, obwohl sich der UNHCR in seinen Richtlinien deutlich dagegen ausspricht. Amnesty International wird die Situation in der Region weiter beobachten. In diesem Fall hatte das Eingreifen des EGMR eine entscheidende Wirkung. Aktionen des Eilaktionsnetzes könnten sich in Zukunft ebenfalls als ausschlaggebend erweisen.

Weitere Aktionen des Eilaktionsnetzes sind derzeit nicht erforderlich. Vielen Dank allen, die Appelle geschrieben haben.


Hintergrundinformationen

Im April 2010 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht, der die Risiken für Menschen aufzeigt, die gegen ihren Willen in den Irak zurückkehren müssen und die besonders gefährdet sind, Opfer von Gewalt zu werden. (Iraq: Civilians under Fire, MDE 14/002/2010 auf www. Amnesty.org)
Mindestens fünf europäische Länder – Norwegen, Schweden, Dänemark, Grossbritannien und die Niederlande – haben hunderte irakische Staatsangehörige abgeschoben, deren Asylanträge seit 2009 abgelehnt worden waren. Allein im September 2010 wurden über 150 Personen von diesen Ländern in den Irak zurückgebracht. Die meisten dieser Abschiebungen wurden entgegen der Richtlinien des UNHCR vom April 2009 - die später mehrmals bekräftigt wurden, zuletzt im September 2010 - begangen. In den Richtlinien werden besonders gefährliche Regionen im Irak benannt, darunter die Provinzen Ninewa (Mosul), Kirkuk, Salah al-Din, Diyala und Bagdad. Der UNHCR empfahl ausserdem, dass keine Abschiebungen in andere Regionen des Irak durchgeführt werden sollen, es sei denn, eine individuelle Prüfung hat stattgefunden, die darauf hinweist, dass eine Rückkehr der betroffenen Person sicher ist.
Immer noch werden im Irak jeden Monat hunderte Zivilpersonen getötet und verstümmelt, trotz der seit 2008 insgesamt zurückgehenden Zahl der Getöteten. Bewaffnete Gruppen, Milizarmeen, Sicherheitskräfte und Stammesangehörige begehen im Irak Menschenrechtsverletzungen. Die kürzlich von der Internet-Plattform Wikileaks veröffentlichten geheimen Dokumente des US-Militärs zur Situation im Irak zeigen erneut, dass Zivilpersonen die Hauptopfer der andauernden Gewalt im Land sind.
Tätsächlich sind die Zahlen irakischer Flüchtlinge, die in Europa Asyl suchen im Vergleich zu den derzeitigen Flüchtlingszahlen in den Nachbarstaaten des Irak gering. Syrien nimmt mit Abstand die meisten Flüchtlinge aus dem Irak auf, darauf folgen Jordanien und andere Nahoststaaten. Amnesty International befürchtet, dass die zunehmenden Abschiebungen aus den Niederlanden und anderen europäischen Staaten ein sehr schlechtes Vorbild für die Nahoststaaten bieten, die durch den Zustrom von Flüchtlingen aus dem Irak an ihre Grenzen stossen. Ausserdem könnte es zu einer weltweiten Verschlechterung des Schutzes von Flüchtlingen beitragen.

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