Militärdienstverweigerer weiterhin in Haft
Der gewaltlose politische Gefangene İnan S. ist in eine Haftanstalt in die Küstenstadt Izmir verlegt worden und wartet dort auf sein Gerichtsverfahren, das unter der Anklage der „Fahnenflucht“ gegen ihn angestrengt worden ist. Er hat in demselben Gefängnis eine bereits früher gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe verbüsst und war seinerzeit nach eigenen Angaben von Strafvollzugsbediensteten geschlagen worden. Auch in seiner jetzigen Situation besteht die Gefahr, dass er gefoltert oder misshandelt wird.
Nach seiner Festnahme am 5. August 2010 war İnan S. zunächst in Istanbul in Haft gehalten worden und wurde am 23. August nach Izmir verlegt. Am 24. August fand in seinem Beisein eine Anhörung vor dem für die türkischen Streitkräfte in der Ägäis zuständigen Militärgericht statt. Das Gericht hielt die Anklage der „Fahnenflucht“ aufrecht und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen İnan S an. Während der gerichtlichen Anhörung erklärte İnan S erneut, er könne den Militärdienst aus Gewissensgründen nicht antreten. Ein Prozesstermin ist bislang nicht anberaumt worden.
İnan S. ist seit 2001 mindestens drei Mal der „Fahnenflucht“ schuldig gesprochen worden und hat die jeweils verhängten Strafen in Militärgefängnissen abgeleistet. Er berichtete, während seiner Inhaftierung im Militärgefängnis von Sirinyer in Izmir sei er vom Wachpersonal wiederholt geschlagen worden. Von den verhängten Strafen aus den bisherigen Prozessen muss Inan S. noch 35 Monate ableisten.
In einem Brief an die Militärbehörden erklärte Inan S. 2009, er lehne den Dienst in den Streitkräften aus tiefer Überzeugung ab. Er habe die Ableistung des Militärdienstes nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt verweigert, weil ihm nicht bekannt gewesen sei, dass das Recht auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen international anerkannt ist.
Hintergrundinformationen
Die Möglichkeit der Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist in der Türkei rechtlich nicht anerkannt, und es gibt keinen alternativen Zivildienst für Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Sie müssen für gewöhnlich mit Strafverfolgungsmassnahmen und bis zu drei Jahren Haft rechnen. Nach Verbüssen ihrer Haftstrafe erhalten die Betroffenen oft neue Einberufungsbefehle, sodass sich die gesamte Prozedur wiederholt. Die Türkei hat eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2006 bislang nicht umgesetzt. In diesem Richterspruch wird das Land zu einer Gesetzeskorrektur aufgefordert, um die wiederholte Strafverfolgung von Militärdienstverweigerern sowie die mehrfache Verhängung von Schuldsprüchen zukünftig zu verhindern. Ein solches Vorgehen befand das Gericht als unvereinbar mit dem in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Verbot unmenschlicher Behandlung.
Für Amnesty International ist ein Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen eine Person, die aus Gründen ihres Gewissens oder ihrer tiefen Überzeugung den Dienst in den Streitkräften oder eine andere direkte oder indirekte Beteiligung an Kriegen oder bewaffneten Konflikten ablehnt. Dazu können auch Personen gehören, die die Teilnahme an einem bestimmten Krieg ablehnen, weil sie dessen Ziele oder die Art und Weise, wie er geführt wird, ablehnen, auch wenn sie sich nicht generell gegen die Beteiligung an Kriegen aussprechen. Wenn solch eine Person allein aus dem Grund festgenommen oder inhaftiert wird, weil man ihr das Recht auf Stellung eines Antrags auf Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen oder auf Ableisten eines als tatsächliche Alternative bestehenden Zivildienstes verwehrt oder vorenthalten hat, so ist diese Person als gewaltloser politischer Gefangener zu betrachten. Ebenfalls als gewaltlose politische Gefangene betrachtet Amnesty International Personen, die aus Gewissensgründen die Streitkräfte ohne Erlaubnis verlassen haben und deswegen inhaftiert wurden, obwohl sie angemessene Massnahmen ergriffen hatten, um ihre Entlassung aus dem Militärdienst zu erwirken.
Das Recht, die Ableistung des Militärdienstes aus Gewissensgründen zu verweigern, leitet sich aus dem Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ab, welches in einer Reihe von internationalen Menschenrechtsabkommen verankert ist, unter anderem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Die Türkei ist Vertragsstaat dieses Pakts.
Die UN-Menschenrechtskommission hat bereits 1995 in ihrer Resolution 1998/77 bekräftigt, dass das Recht auf Militärdienstverweigerung durch Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (Recht auf Religions-, Gewissens- und Gedankenfreiheit) geschützt ist. In der Resolution heisst es: „[Die Menschenrechtskommission] macht auf das Recht eines jeden Menschen aufmerksam, im Rahmen der legitimen Ausübung des Rechts auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wie es in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie in Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt ist, aus Gewissensgründen den Militärdienst zu verweigern.“ In der Resolution findet sich der Aufruf an alle Staaten, „für Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen verschiedene Formen des Ersatzdienstes vorzusehen, die mit den Gründen für die Militärdienstverweigerung vereinbar sind, als Dienst ohne Waffe oder als Zivildienst abgeleistet werden, im öffentlichen Interesse liegen und keinen Strafcharakter aufweisen“. In der Resolution wird ferner betont, „dass die Staaten die notwendigen Massnahmen ergreifen sollen, um Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen nicht auf Grund des Nichtableistens des Militärdienstes der Freiheitsentziehung und wiederholter Bestrafung zu unterwerfen“. Und weiter heisst es, „dass niemand wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz oder dem Strafverfahrensrecht des jeweiligen Landes rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, zur Rechenschaft gezogen oder erneut bestraft werden darf“.
Am 3. November 2006 hat der UN-Menschenrechtsausschuss im Fall zweier Militärdienstverweigerer aus der Republik Korea entschieden, dass mit der strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung der beiden Männer gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte verstossen worden ist, da das Land damals keine Alternative zum Militärdienst anbot.